Kopf hoch, Albanien!
Es regnete seit nunmehr 36 Stunden. Glücklicherweise mussten wir auf den schmalen Straßen auf dem Weg zum Seilfloß in Butrint, welches übrigens im Routenplaner nicht einmal angezeigt wurde, nur einigen Orangenbauern ausweichen. Als wir am Wasser ankamen, war es schon mit einem Mercedes Kombi belegt. Ich schaltete den Motor ab und wollte mich gerade entspannt zurücklehnen, als mir bedeutet wurde, ich solle mein Fahrzeug ebenfalls noch auf das Holzgestell lenken. Das musste ein Fehler sein!
Ich zitterte ja immer noch von der Fährüberfahrt in Brăila. Doch der Fährmann winkte mich freundlich heran. Und unser Gefährt passte tatsächlich. Allerdings nur weil am Rand des schwimmenden Treibguts statt einer TÜV-geprüften Absperrung nur ein paar Seile so lose gespannt waren, dass ich sie mit der Motorhaube zur Seite drücken könnte. Die Fähre neigte sich und wir fingen an, im Geiste unsere Testamente zu verfassen. Dann wurden wir mit einem Ruck von einem ächzenden Drahtseil auf die andere Seite gezogen, wo wir nach einigem Manövrieren schließlich wieder festen Boden unter die Räder bekamen. Herzlich willkommen in Albanien!
Unser erster Campingplatz lag in Ksamil. In diesem Sommerurlaubsort war praktisch nichts los. Dennoch war es ein guter Start für uns. Die Gastfreundschaft der Betreiber setzte noch einmal neue Maßstäbe und wir lernten zwei nette Paare aus Deutschland kennen, mit denen wir zwei angenehme Abende verbrachten und unsere Reise dann, um einige Tipps reicher, fortsetzten.
Überraschenderweise führten diese uns weg von der Küste, an Orte, von denen wir zuvor nie gehört hatten. Schon für Gjirokastra hatte sich die serpentinenreiche Fahrt durch die wilde, spektakuläre Landschaft gelohnt, der Höhepunkt war jedoch Berat. Allein der Müßiggang durch den Stadtteil Gorica versetzte uns zurück ins Mittelalter. Und es gab einen entscheidenden Unterschied zu anderen historischen Orten, die wir bisher auf unsere Reise besucht hatten: Genau wie später in der riesigen und spektakulären Burganlage waren die Gebäude zwar nicht perfekt restauriert (sie schienen eher im Originalzustand belassen worden zu sein), dafür rauchten deren Schornsteine. Wir wollten es zunächst nicht glauben, aber wo andernorts ein umzäuntes Freiluftmuseum nur zahlenden Touristen Zugang gewährt hätte, lebten hier Menschen, die ihren von Holzofenluft geschwängerten Alltag bestritten, was die Atmosphäre wirklich noch authentischer und einmaliger machte.
Unvergleichlich erfahrungsreich machte den Tag dann ein überraschendes Ereignis, welches einmal mehr zeigte, dass Albanien einfach anders ist. Als wir zwischen der sunnitischen und der schiitischen Moschee die Schönheit des mittelalterlichen Platzes bewunderten, den unsere Mädels noch schöner fanden als sie lernten, dass die unteren Etagen des dort ansässigen, uralten Verwaltungsgebäudes ehemals Stallungen der örtlichen Karawanserei waren, in denen die mittelalterlichen Transportmittel weiland ausruhen konnten, sprach uns ein ebenso zahn- wie haarloser Mann an. Die nordwesteuropäische Skepsis bei solchen Begegnungen hatten wir auf Grund der unzähligen, freundlichen Begegnungen mit Menschen auf unserer Reise mittlerweile abgelegt und so entwickelte sich ein spannendes wie lustiges Gespräch auf einer Mischung aus italienisch, spanisch, albanisch und deutsch, in dessen Verlauf wir herzlich in die sunnitische Moschee eingeladen wurden.
Schande auf mein Haupt, aber für mich war es der erste Besuch in einem muslimischen Gotteshaus überhaupt. Immerhin wusste ich, dass ich meine Schuhe ausziehen musste, wofür sich unser Gastgeber, der Hausmeister des Gotteshauses, wortreich entschuldigte. Die Moschee war alt (15. Jahrhundert) und würdevoll; unvergesslich machte den Besuch aber die Tatsache, dass wir eingeladen wurden, das Minarett zu besteigen. Der Aufgang war so schmal, dass wir nacheinander empor und wieder hinabklettern mussten. Das war zwar nichts für Klaustrophoben, wir fühlten uns beim traumhaften Blick vom Balkon dafür gleich wie der Muezzin.
Unten angekommen erklärte uns der Chef, dass viele albanische Muslime nicht sehr streng gläubig seien und die Moschee deshalb so leer. Hätte ich vom Turm aus zum Gebet gerufen und damit eine fünfköpfige Familie beim Kaffee überrascht, wäre einfach ein Vertreter derselben erschienen und hätte für die anderen mitgebetet. So würde das in seiner Familie auch seit jeher erfolgreich praktiziert.
Wir wollten uns schon verabschieden, als unser selbsternannter Touristenführer anbot, uns auch noch die schiitische Halveti-Tekke zu zeigen. Moment, wand ich ein, ein Hausmeister für Schiiten und Sunniten? Gab es da nicht unüberbrückbare Differenzen? Nicht so im liberalen Albanien, erklärte unser Gastgeber, wo die Menschen einen sehr toleranten Umgang pflegten. Heiraten unter Christen und Muslimen sei kein Problem und auch beim Schweinefleisch würde manchmal nicht so genau nachgefragt. Ob diese gegenseitige Akzeptanz eine Folge gemeinsamen Leidens während der vielleicht massivsten Unterdrückung eines Volkes im modernen Europa und dem absoluten Religionsverbot bis 1991 ist, wäre für Soziologen sicher spannend zu untersuchen. Für uns blieb eine einmalige und herzliche Erfahrung.
An dieser Stelle könnte ich auch noch ausschweifend erzählen, wie wir, kaum dass wir die Tekke verlassen hatten, auch auf dem Weg hoch zur Burg nett angesprochen wurden und eine weitere spannende Führung erhielten, die beim Wohnhaus (aus dem 13. Jahrhundert!) des Mannes endete, aber der Text über Albanien ist ja jetzt schon länger als alle anderen. Zusammenfassend können wir festhalten, dass wir einen vergleichbaren Ort wirklich nirgendwo anders gesehen und um ein Haar gar an Berat vorbeigefahren wären.
Der aufmerksame Leser bemerkt unsere riesengroße Begeisterung für Albanien ohne Frage schnell, aber natürlich gibt es auch dunkle Schattenseiten. Dunkel verglast sind auch die Luxuslimousinen, die immer wieder aufreizend langsam durch die Gegend gleiten. Wer korrupt ist oder in den frühen Neunzigern für die SCU per Schnellboot Drogen über die dort nur 60 Kilometer breite Adria nach Lecce transportierte, fährt heute eben Mercedes. Reich wurden einige wenige auch durch Müllimporte und die illegale Entsorgung auf wilden Müllkippen. Obwohl die EU bei ersten Aufnahmegesprächen bemängelte, dass es im Land keine ordnungsgemäße Müllentsorgung gab, wurde zunächst weiterhin tonnenweise Unrat nach Albanien exportiert. Mittlerweile unterstützt die EU Albanien zwar dabei, das Problem in den Griff zu bekommen, herum(f)liegender Abfall ist aber ein Schandfleck, der das Land noch viele Jahre prägen wird.
Unschön und irritierend sind auch die unzähligen unfertigen Gebäude, vielfach in bester Lage, die das Gesamtbild stören. Die Erklärungen, warum es so viel unbewohnbaren Beton gibt, habe ich zwar nicht hundertprozentig verstanden, es ist aber wohl so, dass es sich um illegale Bauten handelt oder die Bauherren vor Fertigstellung ins Ausland abgewandert sind, wie es so viele junge Menschen tun. In der ebenfalls sehr aufregenden Stadt Shkodra trafen wir beispielsweise einen ganz jungen Kerl, der kurz zuvor noch in Dortmund Zeitungen ausgetragen hatte. Er hatte für die Gültigkeitsdauer seines Dreimonatsvisums bei einem Kosovaren in der Dortmunder Nordstadt gelebt. Der Lohn überstieg dabei deutlich das, was er in derselben Zeit in Albanien hätte verdienen können und so wartete er bereits auf sein nächstes Visum. Vielleicht liegt es nur an mir selbst, aber irgendwie kommt es mir falsch vor, dass wir unsere Zeitungsboten aus Albanien einfliegen lassen.
Ein weiteres Problem ist, dass albanische Kleinbauern, wie es sie immer noch in großer Zahl gibt, keinen externen Markt für ihre wirklich hervorragenden Produkte haben. Daher ist der Straßenverkauf ein viel gesehenes Bild. Dies wirkt romantisch, spiegelt aber gleichzeitig die Not und die Ungleichheit in der Gesellschaft wider.
Verständlich ist daher der Wunsch, Mitglied der EU zu werden, der bisweilen dazu führt, dass einige Albaner uns Westeuropäern zu demütig begegnet sind. Vielleicht ist die unterwürfige Haltung aber eine weitere Folge der Schreckensherrschaft Enver Hoxhas, der seinem Volk vor allem drei Dinge hinterlassen hat: Opfer, Armut und Bunker. Von letzteren befinden sich noch immer ca. 150.000, verteilt an den unmöglichsten Orten, im ganzen Land. Eine Aufarbeitung der Geschichte hat dennoch nur in Ausnahmefällen stattgefunden, was auch daran liegt, dass 1991 aus vielen kriminellen Unterdückern über Nacht überzeugte Demokraten wurden, die das Land einfach weiter regiert haben.
Ein letztes Beispiel zeigte uns dann aber noch einmal, wie eine positive Zukunft Albaniens aussehen könnte: Auf dem familiengeführten Bauernhof Mizri i Zanave ist nicht nur ein fantastisches Weingut mit einem tollen Restaurant entstanden, in dem ausschließlich lokal und ökologisch produzierte Produkte verwendet werden, es wird darüber hinaus noch jedem Interessierten eine hochspannende Führung durch die Produktionsstätten geboten, bei der auch geschichtliche Informationen nicht zu kurz kommen. So erfuhren wir, einmal mehr auf sehr ordentlichem Englisch, dass Teile der Gebäude ehemals als Gefängnis der Hoxhadiktatur dienten, was auch die drei auf dem Gelände befindlichen Bunker erklärt. Unter dem Strich haben um die 70 Angestellten hier ein festes Einkommen, die Bauern der Region einen verlässlichen Absatzmarkt und Touristen, auch aus dem Ausland, eine tolle Anlaufstelle für ein unvergessliches Erlebnis.
Fazit: Es gibt keinen Grund für unsere albanischen Freunde, mit gesenktem Haupt durch die Welt zu gehen und es wird Zeit, sie in unserer Mitte zu begrüßen – auch um die Entwicklung seit dem Sturz der Diktatur noch positiver zu gestalten und das Land nicht der Mafia oder dem internationalen Kapitalmarkt zu überlassen.